Der demografische Wandel wird Europa in den kommenden Jahrzehnten tiefgreifend verändern, bis 2070 rund ein Drittel der EU-Bevölkerung älter als 65 Jahre sein. Besonders stark betroffen: Deutschland: Laut einer Zeb-Studie schrumpft die Bevölkerung bis 2034 um 2,7 Millionen Menschen, der Arbeitsmarkt sogar um rund sechs Millionen Erwerbstätige – ein Rückgang von 13 Prozent. Der Fachkräftemangel entwickelt sich damit zum zentralen Geschäftsrisiko.
Als Reaktion setzen viele Unternehmen verstärkt auf betriebliche Altersversorgung (bAV) zur Mitarbeiterbindung. Eine Studie von Generali, FAZ Business Media und Forsa zeigt: Rund jeder zweite bAV-Entscheider im Mittelstand sieht in einer attraktiven bAV mit Hinterbliebenenversorgung einen Vorteil bei der Personalgewinnung – bei größeren Betrieben liegt die Zustimmung sogar bei 52 Prozent, bei kleineren bei 47 Prozent.
Faktisch ein stagnierender Markt
Gleichwohl macht die Marktdurchdringung derzeit kaum Fortschritte, wie die Generali-Studie zeigt und der GDV auch bestätigt. „Die betriebliche Altersvorsorge ist seit Jahren ein faktisch insgesamt stagnierender Markt, der ungefähr mit der Lohnentwicklung wächst. Das hat sich durch die Krisen nicht groß verändert. Aus Sicht der Versicherer also weiter ein Verdrängungswettbewerb mit entsprechendem Druck auf Margen und Konditionen, zum Vorteil der Versicherten“, bestätigt Stefan Opel, Bereichsleiter Unternehmerkunden bei der Gothaer Lebensversicherung, die Studienergebnisse. Trotz der herausfordernden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sei man auch im Bereich der bAV sehr stark gewachsen, so Opel.
„Vor allem im Neugeschäft.“ Auch die Alte Leipziger zeigt sich zufrieden, das bAV-Geschäft habe sich wieder positiv entwickelt, bestätigt Katharina Puchowski. „Zwar nehmen wir durchaus wahr, dass Arbeitgeber angesichts der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Lage etwas zögerlicher geworden sind, neue bAV-Verträge abzuschließen; generell beobachten wir aber ein wachsendes Interesse bei Arbeitgebern an attraktiven, passenden Vorsorgeangeboten für ihre Mitarbeitenden“, sagt Puchowski.
Auch die Stuttgarter, Ergo, HDI und Swiss Life Leben zeigten sich zufrieden mit dem bAV-Geschäft des abgelaufenen Geschäftsjahres. Treiber hierfür ist das bereits 2018 in Kraft getretene Betriebsrentenstärkungsgesetz (BRSG). „Wir beobachten eine Bereitschaft zur Umsetzung der bAV, die es bei Unternehmen in dem Umfang nicht gegeben hat“, bestätigt Christine Schönteich, Geschäftsführerin Fonds Finanz, gegenüber Cash. Zwar habe die bAV bei Arbeitnehmenden bereits vor 2018 einen hohen Stellenwert gehabt. „Der seit dem BRSG verfügbare verpflichtende Arbeitgeberzuschuss, die Einführung des Rentenfreibetrages und der erhöhte Förderrahmen haben die Nachfrage auf der Arbeitnehmerseite noch verstärkt“, so Schönteich weiter. Spätestens seit dem Start des BRSG hätten die Vermittler den Auftrag, alle Arbeitgeber bei der Implementierung einer Betriebsrente kompetent zu beraten und zu betreuen. Vor dem Hintergrund unterstütze man die angebundenen Partner von der Akquise über die Beratung bis hin zur Betreuung der Firmenkunden bestmöglich. „Wir beobachten, dass sich mit dem Inkrafttreten des BRSG die Zahl der auf diesem Gebiet qualifizierten Vermittler und auch die Umsätze im Firmengeschäft deutlich erhöht haben“, betont die Pool-Geschäftsführerin.
Doch warum tritt der Markt auf der Stelle, wenn das Geschäft gut läuft? Martin Bockelmann, Gründer und Co-CEO von Xempus, sieht einen Bremsschuh in der innerbetrieblichen Kommunikation. „Eine Studie von PWC zeigt, dass bei der Hälfte der Unternehmen, die eine Möglichkeit zur Entgeltumwandlung anbieten, nur 40 Prozent der Arbeitnehmer das Angebot auch wirklich nutzen. Hier zeigt sich, dass eine verständliche Kommunikation entscheidend ist, um zur Verbreitung beizutragen. Nur wenn Arbeitnehmer das Angebot verstehen, werden sie es auch annehmen und nutzen.“ Hinzu kommen der administrative Aufwand und die Komplexität. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen sei das eine Hürde. In diesem Zusammenhang fordert ALH-bAV-Expertin Puchowski eine Vereinfachung der bürokratischen Prozesse und Regelungen bei der Einrichtung einer bAV, etwa bei den Dokumentations- und Nachweispflichten des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer. „Das würde eine volldigitale Einführung und Verwaltung der bAV ermöglichen.“
Hinzu kommt, dass es insbesondere im KMU-Segment nach wie vor Informationsbedarf gibt. „Beispielsweise zu der hochinteressanten Förderung für Niedrigverdiener mit Paragraph 100 EStG. Hier ist eine doppelte Förderung bis zu 50 Prozent drin, wenn sie Beiträge für eine bAV für ihre Belegschaft finanzieren“, sagt Per Protoschill, Geschäftsführer der Stuttgarter Vorsorge-Management GmbH und Leitung der bAV-Vertriebsunterstützung. Dr. Johannes Neder, Vorstand der Maklergenossenschaft VEMA, sieht in dem oftmals nur rudimentär bestehenden Personalwesen bei kleinen und mittleren Firmen eine weitere Ursache. „Bei kleinen und mittleren Firmen gibt es oft kein richtiges Personalmanagement, das sich mit Versorgungsordnungen und all solchen Dingen befasst, solange es nicht wirklich sein muss. Von den Mitarbeitenden wird bAV in der Regel selten angefragt, also bestellt man dieses Themenfeld oft auch nicht aktiv.“
Zudem sprächen Vermittler das Thema zu wenig an, weil sie entweder durch ihre Spezialisierung generell kein Personengeschäft anstreben oder mangels tieferer Kenntnisse oder eines Kooperationspartners zu viel Respekt vor der Thematik haben. „Wenn weder Firma noch Vermittler tätig werden, kommt genau diese Unwissenheit dabei heraus“, sagt Neder.
Seit Inkrafttreten des BRSG sei der Bestand an bAV-Verträgen quer durch alle Durchführungswege um etwas über eine halbe Million Verträge gewachsen. 2017 waren es sogar noch eine dreiviertel Million Verträge weniger. „Der größte Teil davon entfällt auf Direktversicherungen, wo man den „einfachen Arbeiter“, den „typischen Angestellten“ vermuten darf. Also genau die Personen, die am dringendsten fürs Alter vorsorgen müssen. Daher darf man wohl schon von einem Erfolg des BRSG sprechen“, bilanziert der Vertriebsexperte.
Quer durch die Branche wird bedauert, dass durch das Aus der alten Bundesregierung das BRSG II kurz vor dem Startschuss noch gestoppt hat. „Es wurde eine Legislaturperiode vergeudet, ohne dass neue Impulse für die bAV gesetzt wurden“, sagt Fabian von Löbbecke, Vorstand HDI Lebensversicherung und verantwortlich für das Neugeschäft in der Lebensversicherung und der bAV. Wann und wie es unter einer künftigen Bundesregierung weitergehen wird, bleibe abzuwarten. „Allein das „ob“ dürfte unstrittig sein. Denn egal, wer künftig die Regierungsverantwortung tragen wird, der Reformbedarf in der Altersvorsorge ist offenkundig“, sagt von Löbbecke.
Der Reformbedarf ist offenkundig
Ähnlich wie Protoschill oder Opel hält der HDI-Vorstand eine Anhebung und Dynamisierung bei der Geringverdienerförderung (§100 EStG) für überfällig. Dadurch könne man künftig vermeiden, dass Mitarbeitende allein durch übliche tarifliche Lohnerhöhungen im Laufe der Zeit aus dem Kreis der Förderberechtigten herausfallen. „Sie wurde schon beim ursprünglichen BRSG-Gesetzentwurf im Jahr 2017 von Fachleuten angemahnt, aber vom Gesetzgeber nicht umgesetzt“, kritisiert von Löbbecke die alte Bundesregierung Merkel und insbesondere den damaligen Bundesfinanzminister Olaf Scholz.
Auch das Zillmerungsverbot in der Geringverdiener-Förderung sei laut von Löbbecke ein „Showstopper“. Hoffnung setzen die Versicherer zudem auf die Möglichkeit des Opt-Outs auf betrieblicher Basis. „Das würde die Durchdringung in Firmen mit Betriebsvereinbarungen zur bAV sicherlich weiter erhöhen. Gleichwohl wird die bAV in Zukunft eine entscheidende und damit herausragende Rolle im Altersvorsorgemix spielen.
Forderung: Hohe Verlässlichkeit in den Rahmenbedingungen
Davon zeigt sich Hubertus Harenberg, Bereichsleiter Firmenkundengeschäft und Branchenversorgung bei Swiss Life, überzeugt. „Auch wenn es politisch derzeit offen ist, wie es konkret weitergeht, eines ist sicher: Eine Zusatzvorsorge zur gesetzlichen Rente ist dringender denn je – und damit steigt auch die Bedeutung der betrieblichen Altersversorgung weiter an. Unser Wunsch an den Gesetzgeber: hohe Verlässlichkeit in den Rahmenbedingungen“, sagt Harenberg.